Extraktionsrate - ein neuer Ansatz zur Diskussion der verteilung des Mehrwertes
Eine etwas theorie-geladene Erklärung zur Extraktionsrate, die beschreibt, welchen Anteil sich eine Oberschicht von der gesamten Produktion einer Gesellschaft aneignen kann. (pdf)
2023-05-04
Die Extraktionsrate beschreibt, stark vergröbernd, welchen Anteil an der Produktion einer Wirtschaft zum Anwachsen der Vermögen der Oberschicht führen. Sie beruht auf einem simplen zwei Klassen Model der Gesellschaft: (1) die Oberschicht, die Elite und (2) die Armen, der Rest, und einem einfachen Modell von Produktion und Subsistenz, d.h. die Kosten dessen, was zum Überleben notwendig ist.
Begriff
Die Extraktionsrate wird berechnet, indem von der Produktion der
Verbrauch für dessen, was zum Überleben notwendig ist, abgezogen wird,
und dann geschätzt, wie dieser Mehrwert zwischen der kleinen Elite und
dem Rest der Bevölkerung verteilt wird.Gesellschaften, die nicht mindestens die
Subsistenzkosten produzieren, sterben aus.
. Die Extraktionsrate wurde von Milanovic, Lindert und
Williamson[milanovic2010] bei der Bestimmung der Obergrenze für den
Gini-Index der Einkommensverteilung gefunden. Ungleich dem Gini-Index
für das Vermögen, der im Extremfall, wenn eine Person alles Vermögen
besitzt, 1 sein kann, kann die Einkommensverteilung nicht so ungleich
sein, sondern jede Person muss zumindest das Subsistenz-Minimum
verdienen. Daraus ergibt sich ein maximal möglicher Gini-Index, unter
der Annahme von zwei Klassen und einem mittleren Einkommen als das
-fache des Subsistenzminimum und der kleine Anteil der Oberklasse
als
Der berechnete Wert ist wenig abhängig von den Annahmen, angeblich auch
von der Teilung in nur zwei Klassen.
Die Extraktionsrate, d.h. der Anteil am insgesamt in der Gesellschaft geschaffenen Mehrwert, den sich die Oberklasse effektiv aneignet, ergibt sich aus der Differenz zwischen dem maximal möglichen Gini-Index und dem beobachteten.
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Die Extraktionsrate verbindet die Grösse, des in einer Gesellschaft
produzierten WertÜblicherweise als Brutto-Inland-Produkt, BIP, engl. GDP
für gross domestic product, bezeichnet; auf die verschiedenen,
leicht unterschiedlich definierten Grossen wie Bruttosozialprodukt, oder
gross national product, gross national income etc.
kann im Kontext hier verzichtet werden. GDP ist die Angabe, für die am
besten vergleichbare Statistiken verfügbar sind und ist von der OECD
definiert.
mit dem statischen Wert der Vermögend.h. sie verbindet eine Flussgrösse(flow) mit
einem Bestand (stock)
. Sie beschreibt, welchen Anteil an der Produktion sich
eine Oberschicht aneignen kann, wovon nur ein Teil konsumiert wird und
der andere Teil bildet Vermögen; das dann in der nächsten Periode
einkommen produziert, das wiederum teilweise von der Oberklasse
angeeignet wird, und so fort.
Extraktionsrate beschreibt den Entwicklungspfad einer Gesellschaft
In einer egalitären Gesellschaft haben alle ähnlichen Besitz und
partizipieren in gleichem Masse vom Mehrwert, der geschaffen wird. Das
scheint in Sammler und Jäger Gesellschaften meistens der Fall zu sein;
die Akkumulation von nicht konsumiertem Einkommen kann nur in
nicht-produktivem Vermögen z.B. Schmuck, Verzierung an Waffen
erfolgen. Erst in agrarischen Gesellschaften, in denen
nicht konsumiertes Einkommen in produktiver Form[Getreide kann,im
Unterschied zu Jagdbeute, gespeichert werden und produktiv eingesetzt
werden] bilden sich im allgemeinen Oberschichten aus, die einen
grösseren Anteil am gesellschaftlich geschaffenen Mehrwert
beanspruchen.Entscheidend scheint die Entwicklung einer Technologie,
die die Speicherung von Wert erlaubt; Getreide, dessen Verbrauch
aufgeschoben werden kann, ist eine solche Technologie und führt zur
Veränderung der Gesellschaft und der Ausbildung einer
Klassendifferenzierung; kann eine Gruppe Wert sparen und als Kapital für
eine Vergrösserung der Produktivität einsetzen, was zu einer weiteren
Vergrösserung der Ungleichverteilung und der Klassendifferenzierung
führt.
Wenn in einer Gesellschaft die Extraktionsrate, d.h.
der Anteil der Oberschicht am Mehrwert positiv ist, nimmt die
Ungleichverteilung der Vermögen zu. Eine Gesellschaft mit einer
negativen Exkretionsrate ist nicht stabil; die Oberschicht verarmt und
verschwindet, was durch Krieg und Seuchen vorkommen kann(Scheidel
2018b).
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Eine Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung einiger Epochen
aus der Entwicklung verschiedener Gesellschaften zwischen dem 19. und
dem 21. Jahrhundert durch Milanovic kommt zu folgend
Schlussfolgerungen:Milanovic (2009), p. 24
. Im Annex (Milanovic 2009) findet sich
auch eine Liste mit den typischen Einkommen einiger Berufsgruppen in
England um 1800 in Pfund pro Jahr:
Beachtliche ist das Universitätslehrer (etwa 2000 Personen) um 1800
ungefaher die Hälfte des allerhöchsten Einkommens (etwas über 7000
Personen) erzielen.
Global inequality increased from 43-45 Gini points in the early 19th century to some 65-70 Gini points today. … the composition of global inequality changed from being driven by class differences within countries to being driven by locational income differences (that is, by the differences in mean country incomes).
Extraktionsrate im Laufe der Jahrhunderte
In einer Untersuchung der Entwicklung der Extraktionsrate
vor-moderner GesellschaftenMilanovic, Lindert, and Williamson
(2011)
zeigt einige bemerkenswerte Einsichten:
Economic development offers this positive message: the inequality extraction ratio will fall with GDI per capita growth even if measured inequality remains constant. However, economic decline offers the opposite message: a decline in GDI per capita … drives the country’s maximum feasible inequality down. (Milanovic, Lindert, and Williamson 2011, 267)
… income inequality in pre-industrial countries today is not very different from inequality in distant pre-industrial times.
The extraction ratio – how much of potential inequality was converted into actual inequality – was significantly bigger then than now. (Milanovic, Lindert, and Williamson 2009, 17)
The extraction ratio
measures just how powerful, repressive and extractive are the elite, its institutions, and its policies. Regression analysis suggests that colonies are much more unequal and have far higher extraction rates. Economic development also tends to diminish the extraction ratio.(Milanovic, Lindert, and Williamson 2009, 19)
Scheidel meint hoffnungsvoll, dass ein starkes
Wirtschaftswachstum schliesslich die Extraktionsrate verringerte.
Scheidel (2018b), Anhang, S. 562
(deutsche Übersetzung)
Er meint, dass die Extraktionsraten verraten uns mehr
über die tatsächliche Ungleichheit als die Gini-Koeffizienten für sich
genommen.Scheidel (2018b), Anhang S.
564
.
Einfluss von Krieg und Pest
Scheidel Scheidel (2018b)
untersucht in seinem Text mit viel Detail untermauert
Effekte von Krieg, Pest, Revolution etc. auf die Ungleichverteilung. Die
Verteilung des Mehrwertes ist ein komplexer Steuerungsmechanismus des
sozialen Systems, an dem alle beteiligt sindAuch die scheinbar nicht einflussreichen haben ihren
Einfluss indem sie den Einfluss der Einflussreichen tolerieren.
und kann nur geädert werden, wenn alle einverstanden oder
ihr Einverständnis erzwungen, erkauft, oder erschwindeltz.B. Brexit Abstimmung in UK
wurde.
Eine Verminderung der Ungleichverteilung taucht mit und nach einem
Krieg mit Massenmobilisierung auf.Die Mobilisierungsquote stieg im Laufe der letzten
Jahrhunderte von 1.. 1.5% der Bevölkerung auf über 4%.
Durch die hohe Zahl von betroffenen Personen kann sich
die Oberschicht der Finanzierung nicht entziehen und eine soziale
Absicherung der Soldaten und ihrer Familien führten zu
Sozialversicherungssystemen.Scheidel (2018b)
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Kriege mit Massenmobilisierung führen im wesentlichen zu den gleichen
Folgen für Sieger und BesiegteFrühere Söldnerkriege liessen die Oberschicht der
Sieger reicher und die der Besiegten verarmen, wenn sie nicht umgebracht
oder versklavt wurden.
. Die Effekte auf die Ungleichverteilung waren entweder
durch Steuern auf Einkommen und Vermögen, durch Verlust von Anlagen und
Vorräten oder schliesslich durch Ausgabe von Kriegsanleihen, die zu
Inflation und dadurch zu Verluste der Rentnerklasse führen.Der amerikanische Bürgerkrieg nimmt scheinbar eine
spezielle Stellung ein: es gab Massenmobilisation (über 10% der
Bevölkerung war mobilisiert), die Reichen im den Südstaaten verloren
scheinbar die Hälfte des Besitzes (Sklaven, die aber als Freie weiterhin
als Arbeitskräfte zur Verfügung standen), der Norden gewann wohl eher
durch die wirtschaftliche Entwicklung. Scheidel betont, m.E.
fälschlicherweise, den Buchverlust der reichen Südstaatler, denen die
Sklaven aus der Buchhaltung gefallen sind.
Offene Fragen
Reduktion von Ungleichverteilung
Scheidel meint, dass nur Krieg und Pest die Ungleichverteilung
vermindern; die normalen UmwälzungenRevolutionen, wie in Russland
, dass eine Gruppe die Oberschicht verjagt und selber
Oberschicht wird, ändert an der Verteilung von Einkommen und Vermögen
scheinbar wenig.Scheidel (2018b)
Nach Kireg und Pest ist die Bevölkerung reduziert und damit fehlen Arbeitskräfte bei gleichem Angebot von Kapital (insbesondere Grund). Das Verändert für ein Jahrhundert die Verteilung des Mehrwertes zwischen Arbeitseinkommen und Grund- oder Kapitalrente, was sich in einer verminderten Ungleichverteilung der Einkommen widerspiegelt.
Da sich die Bevölkerung regelmässig nach Katastrophen wieder bis zu einem Gleichgewicht erholt, geht die Exraktinsrate auch wieder zum vorigen Wert und an der Ungleichverteilung ändert sich längerfritig auch nichts.
Dieser Mechanismus ist zu untersuchen, insbesondere ob er heute auch
in dieser Art funktioniert. Sind andere Faktoren möglich, die das
Angebot von Arbeitskraft reduzieren und spielen differenzierte
Ausbildungen eine Rolle?Ich frage mich auch, wie die Extraktionsrate durch die
unrealistische Annahme der zwei Klassen Gesellschaft
beieinflusst wird.
Entwicklung Ungleichverteilung zwischen Länder
Nach Milanovic et al Milanovic, Lindert, and Williamson
(2009), p. 17
sind die Unterschiede zwischen den Ländern viel grösser
als die Unterschiede innerhalb der Länder. Ich nehme an, dass die
wirtschaftliche Entwicklung das BIP pro Kopf angleichen wird. Das sollte
Folgen haben, indem die Transfereffekte zwischen den LändernÄhnlich der Ausnützung der Kolonien
abnimmt und damit die Extraktionsrate in den entwickelten
Ländern reduziertMeine Hoffnung?
.
Zur Illustration: Augsburg in der Zeit des Dreissigjährigen Krieges
Die Veränderungen in der Stadt Augsburg können als Beispiel für das Wirken verschiedener Kräfte auf die ökonomische Situation der Bevölkerung einer Stadt gesehen werden. Die Analyse im Detail gibt auch einen Hinweis auf welche quantitativen Aussagen für die Lage einer Bevölkerung wesentlich sein konnten.
ScheidelScheidel (2018a)
behandelt ausführlich die Veränderungen in der Stadt
Augsburg, wobei er sich scheinbar auf die Arbeiten von (Röck1989?)
stütztBesprechung (François 1993)
Augsburg zwischen 1500 und 1600
Die Einwohnerzahl wächst von 20,000 auf 48,000 Personen; damit ist Augsburg die zweitgrösste Stadt Deutschlands in dieser Zeit. Für Augsburg gibt es scheinbar eine Statistik der Steuerzahlungen berechnet nach dem Vermögen (wohl ohne Bargeld, Juwelen u.ä.).
- 1498: Gini-Index steigt in 4 Jahren von 0.66 auf 0.89.
- 1618: Die reichsten 10% zahlten 91% der Steuer, die obersten 1% fast die Hälfte.
Die Angaben von Scheidel scheinen mir nicht plausible und nicht
konsistent, dennoch lässt sich herauslesen: Vor 1618 ist die
Einwohnerzahl gestiegen (auf fast 10,000 Steuerzahler5 Personen pro Steuerzahler.
) und das durchschnittliche Vermögen nimmt etwa in
gleichem Mass zu. Die Reallöhne seien gesunken; etwa 1/8 der Bevölkerung
ist sehr arm, 1/3 arm, 2% reich.
In der Zeit des Dreissigjährigen Krieges wirken verschiedene Kräfte:
Kriegslasten durch Einquartierungen (je nach Kriegspartei und Religion des Haushaltes)
Inflation durch Finanzierung des Krieges, bis zu einer Entwertung um 90%. Die Patrizier werden von der Inflation weniger getroffen, da sie Vermögen angelegt haben (in Land, z.B.); die reichen Kaufleute und die Mittelschicht profitieren.
Seuchen (Pest und Typhus) in Wellen mit 20% Tote, vor allem in den armen Schichten.
Belagerung und Hungersnot trifft vor allem die Armen.
Stadt verliert Liquidität und verringert die Zinszahlungen. Die Liquiditätskrise der Stadt trifft Kapitaleigner.
Steuern und Abgaben an die schwedischen Sieger triff die reichen.
Die Verteilung des Immobilienbesitzes ist kaum verändert, der Wert
der Immobilien hingegen um einen Drittel gesunken; viele Leerstände von
Werkstätten. Kredite waren wertlos geworden. Insgesamt hat der
ReichtumDas Vermögen aller
um 3/4 abgenommen. Der Reichtum der obersten Schichten
hat deshalb abgenommenWas den Gini-Index verringert
.
Am Schlussnach dem Schluss des Westfälischen Friedens 1648
stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften, so dass
Handwerker Vermögen bilden konnten.
Insgesamt hatte der Gini-Index von 0.9 auf 0.75 gesunken: durch Sterben der Armen wegen Seuchen und Hungersnot einerseits und durch Wertverlust von Immobilien und Verlust von Darlehen der Reichen.
Was lernt man aus diesem Mist?
Immobilien, auch wenn sie an Geld-Wert verlieren, bleiben erhalten.
Anleihen werden wertlos weil die Schuldner untergehen oder zu Siegern
werden und sie als wertlos erklären. Über dieses Beispiel heraus: auch
in anderen Epochen und Regionen sind regelmässige Katastrophen
eingetreten. Die friedliche Zeit in Europa seit dem 2. Weltkriegjetzt fast 80 Jahre
ist wohl eher die Ausnahme und in dieser Zeit hat es 3
wichtige Finanzkrisen gegeben.
Die Katastrophen, die eine Gesellschaft durchrütteln, tauchen
regelmässig auf, aber meist nicht häufig genug, dass sie zu
Entwicklungen führen, die organisierte Vermeidung der Ursache erreichen.
Nicht diskutiert worden sind sogenannte Naturkatastrophendie meist das Ergebnis von Veränderungen in der Natur,
die vom Menschen angestossen sind; z.B. regelmässige Überschwemmungen
jeden Sommer in Italien als Ergebnis von illegalen Bautätigkeiten.
, die regelmässig auftreten und die Schäden werden
repariert, nur um beim nächsten Auftreten wieder zu entstehenZ.B. Überschwemmungen in Bangladesch, Lawinen in den
Alpen.
.
Die Bevölkerung ist auf die Hälfte geschrumpft, wobei dies vor allem
die Gruppe der Armen trafWas den Gini-Index verringert!
.