Eine Brücken-Ruine
Andrew U. Frank

Extraktionsrate - ein neuer Ansatz zur Diskussion der verteilung des Mehrwertes

Eine etwas theorie-geladene Erklärung zur Extraktionsrate, die beschreibt, welchen Anteil sich eine Oberschicht von der gesamten Produktion einer Gesellschaft aneignen kann. (pdf)

2023-05-04

Die Extraktionsrate beschreibt, stark vergröbernd, welchen Anteil an der Produktion einer Wirtschaft zum Anwachsen der Vermögen der Oberschicht führen. Sie beruht auf einem simplen zwei Klassen Model der Gesellschaft: (1) die Oberschicht, die Elite und (2) die Armen, der Rest, und einem einfachen Modell von Produktion und Subsistenz, d.h. die Kosten dessen, was zum Überleben notwendig ist.

Begriff

Die Extraktionsrate wird berechnet, indem von der Produktion der Verbrauch für dessen, was zum Überleben notwendig ist, abgezogen wird, und dann geschätzt, wie dieser Mehrwert zwischen der kleinen Elite und dem Rest der Bevölkerung verteilt wird.Gesellschaften, die nicht mindestens die Subsistenzkosten produzieren, sterben aus.

. Die Extraktionsrate wurde von Milanovic, Lindert und Williamson[milanovic2010] bei der Bestimmung der Obergrenze für den Gini-Index der Einkommensverteilung gefunden. Ungleich dem Gini-Index für das Vermögen, der im Extremfall, wenn eine Person alles Vermögen besitzt, 1 sein kann, kann die Einkommensverteilung nicht so ungleich sein, sondern jede Person muss zumindest das Subsistenz-Minimum verdienen. Daraus ergibt sich ein maximal möglicher Gini-Index, unter der Annahme von zwei Klassen und einem mittleren Einkommen als das -fache des Subsistenzminimum und der kleine Anteil der Oberklasse als

G*=(1ϵ)×(α1)÷(α)G* = (1-\epsilon) \times (\alpha - 1) \div (\alpha)

Der berechnete Wert ist wenig abhängig von den Annahmen, angeblich auch von der Teilung in nur zwei Klassen.

Die Extraktionsrate, d.h. der Anteil am insgesamt in der Gesellschaft geschaffenen Mehrwert, den sich die Oberklasse effektiv aneignet, ergibt sich aus der Differenz zwischen dem maximal möglichen Gini-Index und dem beobachteten.

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Die Extraktionsrate verbindet die Grösse, des in einer Gesellschaft produzierten WertÜblicherweise als Brutto-Inland-Produkt, BIP, engl. GDP für gross domestic product, bezeichnet; auf die verschiedenen, leicht unterschiedlich definierten Grossen wie Bruttosozialprodukt, oder gross national product, gross national income etc. kann im Kontext hier verzichtet werden. GDP ist die Angabe, für die am besten vergleichbare Statistiken verfügbar sind und ist von der OECD definiert.

mit dem statischen Wert der Vermögend.h. sie verbindet eine Flussgrösse(flow) mit einem Bestand (stock)

. Sie beschreibt, welchen Anteil an der Produktion sich eine Oberschicht aneignen kann, wovon nur ein Teil konsumiert wird und der andere Teil bildet Vermögen; das dann in der nächsten Periode einkommen produziert, das wiederum teilweise von der Oberklasse angeeignet wird, und so fort.

Extraktionsrate beschreibt den Entwicklungspfad einer Gesellschaft

In einer egalitären Gesellschaft haben alle ähnlichen Besitz und partizipieren in gleichem Masse vom Mehrwert, der geschaffen wird. Das scheint in Sammler und Jäger Gesellschaften meistens der Fall zu sein; die Akkumulation von nicht konsumiertem Einkommen kann nur in nicht-produktivem Vermögen z.B. Schmuck, Verzierung an Waffen

erfolgen. Erst in agrarischen Gesellschaften, in denen nicht konsumiertes Einkommen in produktiver Form[Getreide kann,im Unterschied zu Jagdbeute, gespeichert werden und produktiv eingesetzt werden] bilden sich im allgemeinen Oberschichten aus, die einen grösseren Anteil am gesellschaftlich geschaffenen Mehrwert beanspruchen.Entscheidend scheint die Entwicklung einer Technologie, die die Speicherung von Wert erlaubt; Getreide, dessen Verbrauch aufgeschoben werden kann, ist eine solche Technologie und führt zur Veränderung der Gesellschaft und der Ausbildung einer Klassendifferenzierung; kann eine Gruppe Wert sparen und als Kapital für eine Vergrösserung der Produktivität einsetzen, was zu einer weiteren Vergrösserung der Ungleichverteilung und der Klassendifferenzierung führt.

Wenn in einer Gesellschaft die Extraktionsrate, d.h. der Anteil der Oberschicht am Mehrwert positiv ist, nimmt die Ungleichverteilung der Vermögen zu. Eine Gesellschaft mit einer negativen Exkretionsrate ist nicht stabil; die Oberschicht verarmt und verschwindet, was durch Krieg und Seuchen vorkommen kann(Scheidel 2018b).

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Eine Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung einiger Epochen aus der Entwicklung verschiedener Gesellschaften zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert durch Milanovic kommt zu folgend Schlussfolgerungen:Milanovic (2009), p. 24

. Im Annex (Milanovic 2009) findet sich auch eine Liste mit den typischen Einkommen einiger Berufsgruppen in England um 1800 in Pfund pro Jahr:

Beachtliche ist das Universitätslehrer (etwa 2000 Personen) um 1800 ungefaher die Hälfte des allerhöchsten Einkommens (etwas über 7000 Personen) erzielen.

Global inequality increased from 43-45 Gini points in the early 19th century to some 65-70 Gini points today. … the composition of global inequality changed from being driven by class differences within countries to being driven by locational income differences (that is, by the differences in mean country incomes).

Extraktionsrate im Laufe der Jahrhunderte

In einer Untersuchung der Entwicklung der Extraktionsrate vor-moderner GesellschaftenMilanovic, Lindert, and Williamson (2011)

zeigt einige bemerkenswerte Einsichten:

Economic development offers this positive message: the inequality extraction ratio will fall with GDI per capita growth even if measured inequality remains constant. However, economic decline offers the opposite message: a decline in GDI per capita … drives the country’s maximum feasible inequality down. (Milanovic, Lindert, and Williamson 2011, 267)

… income inequality in pre-industrial countries today is not very different from inequality in distant pre-industrial times.

The extraction ratio – how much of potential inequality was converted into actual inequality – was significantly bigger then than now. (Milanovic, Lindert, and Williamson 2009, 17)

The extraction ratio

measures just how powerful, repressive and extractive are the elite, its institutions, and its policies. Regression analysis suggests that colonies are much more unequal and have far higher extraction rates. Economic development also tends to diminish the extraction ratio.(Milanovic, Lindert, and Williamson 2009, 19)

Scheidel meint hoffnungsvoll, dass ein starkes Wirtschaftswachstum schliesslich die Extraktionsrate verringerte. Scheidel (2018b), Anhang, S. 562 (deutsche Übersetzung)

Er meint, dass die Extraktionsraten verraten uns mehr über die tatsächliche Ungleichheit als die Gini-Koeffizienten für sich genommen.Scheidel (2018b), Anhang S. 564

.

Einfluss von Krieg und Pest

Scheidel Scheidel (2018b)

untersucht in seinem Text mit viel Detail untermauert Effekte von Krieg, Pest, Revolution etc. auf die Ungleichverteilung. Die Verteilung des Mehrwertes ist ein komplexer Steuerungsmechanismus des sozialen Systems, an dem alle beteiligt sindAuch die scheinbar nicht einflussreichen haben ihren Einfluss indem sie den Einfluss der Einflussreichen tolerieren.

und kann nur geädert werden, wenn alle einverstanden oder ihr Einverständnis erzwungen, erkauft, oder erschwindeltz.B. Brexit Abstimmung in UK

wurde.

Eine Verminderung der Ungleichverteilung taucht mit und nach einem Krieg mit Massenmobilisierung auf.Die Mobilisierungsquote stieg im Laufe der letzten Jahrhunderte von 1.. 1.5% der Bevölkerung auf über 4%.

Durch die hohe Zahl von betroffenen Personen kann sich die Oberschicht der Finanzierung nicht entziehen und eine soziale Absicherung der Soldaten und ihrer Familien führten zu Sozialversicherungssystemen.Scheidel (2018b)

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Kriege mit Massenmobilisierung führen im wesentlichen zu den gleichen Folgen für Sieger und BesiegteFrühere Söldnerkriege liessen die Oberschicht der Sieger reicher und die der Besiegten verarmen, wenn sie nicht umgebracht oder versklavt wurden.

. Die Effekte auf die Ungleichverteilung waren entweder durch Steuern auf Einkommen und Vermögen, durch Verlust von Anlagen und Vorräten oder schliesslich durch Ausgabe von Kriegsanleihen, die zu Inflation und dadurch zu Verluste der Rentnerklasse führen.Der amerikanische Bürgerkrieg nimmt scheinbar eine spezielle Stellung ein: es gab Massenmobilisation (über 10% der Bevölkerung war mobilisiert), die Reichen im den Südstaaten verloren scheinbar die Hälfte des Besitzes (Sklaven, die aber als Freie weiterhin als Arbeitskräfte zur Verfügung standen), der Norden gewann wohl eher durch die wirtschaftliche Entwicklung. Scheidel betont, m.E. fälschlicherweise, den Buchverlust der reichen Südstaatler, denen die Sklaven aus der Buchhaltung gefallen sind.

Offene Fragen

Reduktion von Ungleichverteilung

Scheidel meint, dass nur Krieg und Pest die Ungleichverteilung vermindern; die normalen UmwälzungenRevolutionen, wie in Russland

, dass eine Gruppe die Oberschicht verjagt und selber Oberschicht wird, ändert an der Verteilung von Einkommen und Vermögen scheinbar wenig.Scheidel (2018b)

Nach Kireg und Pest ist die Bevölkerung reduziert und damit fehlen Arbeitskräfte bei gleichem Angebot von Kapital (insbesondere Grund). Das Verändert für ein Jahrhundert die Verteilung des Mehrwertes zwischen Arbeitseinkommen und Grund- oder Kapitalrente, was sich in einer verminderten Ungleichverteilung der Einkommen widerspiegelt.

Da sich die Bevölkerung regelmässig nach Katastrophen wieder bis zu einem Gleichgewicht erholt, geht die Exraktinsrate auch wieder zum vorigen Wert und an der Ungleichverteilung ändert sich längerfritig auch nichts.

Dieser Mechanismus ist zu untersuchen, insbesondere ob er heute auch in dieser Art funktioniert. Sind andere Faktoren möglich, die das Angebot von Arbeitskraft reduzieren und spielen differenzierte Ausbildungen eine Rolle?Ich frage mich auch, wie die Extraktionsrate durch die unrealistische Annahme der zwei Klassen Gesellschaft beieinflusst wird.

Entwicklung Ungleichverteilung zwischen Länder

Nach Milanovic et al Milanovic, Lindert, and Williamson (2009), p. 17

sind die Unterschiede zwischen den Ländern viel grösser als die Unterschiede innerhalb der Länder. Ich nehme an, dass die wirtschaftliche Entwicklung das BIP pro Kopf angleichen wird. Das sollte Folgen haben, indem die Transfereffekte zwischen den LändernÄhnlich der Ausnützung der Kolonien

abnimmt und damit die Extraktionsrate in den entwickelten Ländern reduziertMeine Hoffnung?

.

Zur Illustration: Augsburg in der Zeit des Dreissigjährigen Krieges

Die Veränderungen in der Stadt Augsburg können als Beispiel für das Wirken verschiedener Kräfte auf die ökonomische Situation der Bevölkerung einer Stadt gesehen werden. Die Analyse im Detail gibt auch einen Hinweis auf welche quantitativen Aussagen für die Lage einer Bevölkerung wesentlich sein konnten.

ScheidelScheidel (2018a)

behandelt ausführlich die Veränderungen in der Stadt Augsburg, wobei er sich scheinbar auf die Arbeiten von (Röck1989?)

stütztBesprechung (François 1993)

Augsburg zwischen 1500 und 1600

Die Einwohnerzahl wächst von 20,000 auf 48,000 Personen; damit ist Augsburg die zweitgrösste Stadt Deutschlands in dieser Zeit. Für Augsburg gibt es scheinbar eine Statistik der Steuerzahlungen berechnet nach dem Vermögen (wohl ohne Bargeld, Juwelen u.ä.).

Die Angaben von Scheidel scheinen mir nicht plausible und nicht konsistent, dennoch lässt sich herauslesen: Vor 1618 ist die Einwohnerzahl gestiegen (auf fast 10,000 Steuerzahler5 Personen pro Steuerzahler.

) und das durchschnittliche Vermögen nimmt etwa in gleichem Mass zu. Die Reallöhne seien gesunken; etwa 1/8 der Bevölkerung ist sehr arm, 1/3 arm, 2% reich.

In der Zeit des Dreissigjährigen Krieges wirken verschiedene Kräfte:

Die Verteilung des Immobilienbesitzes ist kaum verändert, der Wert der Immobilien hingegen um einen Drittel gesunken; viele Leerstände von Werkstätten. Kredite waren wertlos geworden. Insgesamt hat der ReichtumDas Vermögen aller

um 3/4 abgenommen. Der Reichtum der obersten Schichten hat deshalb abgenommenWas den Gini-Index verringert

.

Am Schlussnach dem Schluss des Westfälischen Friedens 1648

stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften, so dass Handwerker Vermögen bilden konnten.

Insgesamt hatte der Gini-Index von 0.9 auf 0.75 gesunken: durch Sterben der Armen wegen Seuchen und Hungersnot einerseits und durch Wertverlust von Immobilien und Verlust von Darlehen der Reichen.

Was lernt man aus diesem Mist?

Immobilien, auch wenn sie an Geld-Wert verlieren, bleiben erhalten. Anleihen werden wertlos weil die Schuldner untergehen oder zu Siegern werden und sie als wertlos erklären. Über dieses Beispiel heraus: auch in anderen Epochen und Regionen sind regelmässige Katastrophen eingetreten. Die friedliche Zeit in Europa seit dem 2. Weltkriegjetzt fast 80 Jahre

ist wohl eher die Ausnahme und in dieser Zeit hat es 3 wichtige Finanzkrisen gegeben.

Die Katastrophen, die eine Gesellschaft durchrütteln, tauchen regelmässig auf, aber meist nicht häufig genug, dass sie zu Entwicklungen führen, die organisierte Vermeidung der Ursache erreichen. Nicht diskutiert worden sind sogenannte Naturkatastrophendie meist das Ergebnis von Veränderungen in der Natur, die vom Menschen angestossen sind; z.B. regelmässige Überschwemmungen jeden Sommer in Italien als Ergebnis von illegalen Bautätigkeiten.

, die regelmässig auftreten und die Schäden werden repariert, nur um beim nächsten Auftreten wieder zu entstehenZ.B. Überschwemmungen in Bangladesch, Lawinen in den Alpen.

.

Die Bevölkerung ist auf die Hälfte geschrumpft, wobei dies vor allem die Gruppe der Armen trafWas den Gini-Index verringert!

.

François, Étienne. 1993. “Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg Und Frieden.” 48: 1169–71. https://doi.org/10.1017/s0395264900058583.
Milanovic, Branko. 2009. “Global Inequality and the Global Inequality Extraction Ratio: The Story of the Past Two Centuries.” World Bank Policy Research Working Paper, no. 5044.
Milanovic, Branko, Peter H Lindert, and Jeffrey G Williamson. 2009. “Pre-Industrial Inequality.” 2009-07-022. The Economic Journal. Santa Fe Institute.
———. 2011. “Pre-Industrial Inequality.” The Economic Journal 121 (551): 255–72.
Scheidel, Walter. 2018a. Nach Dem Krieg Sind Alle Gleich: Eine Geschichte Der Ungleichheit. Translated by Stephan Gebauer. Darmstadt: wbg Theiss.
———. 2018b. The Great Leveler: Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century. Vol. 114. Princeton University Press.
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